Samstag, 6. Februar 2021

Die Mathematik des Strickens


Heiligengeschichtsschreibung setzt meistens dann ein, wenn ein*e Heilige*r so lange tot ist, dass sich keiner mehr so ganz genau erinnert, Spekulationen blühen und das gemeinsame Verständnis über das was war, schriftlich fixiert werden muss. Forschung setzt ein, wenn Dinge dem Alltag soweit entrückt sind, dass sie als Forschungsobjekte neu in den Blick genommen werden können.

Hätte ich meine Großmutter gefragt, ob sie einem gedruckten Strickmuster, einer Strickanleitung, ansehen könnte, wie elastisch das gestrickte Ergebnis ausfallen wird, hätte sie vermutlich kurz die Stirn gerunzelt, mich verwundert angeschaut und sowas gesagt wie "Ja, natürlich? Das kann man sich ganz einfach klarmachen, wenn man sich das einmal genau durchliest". Meine Großmutter konnte eine Strickanleitung wie ein Musiker Notation lesen oder wie ein Coder seinen Code - mit einer inneren Vorstellung dessen, was die schriftlich codierte Anleitung bedeutet, und was sich wie auswirken wird, wenn man das umsetzt. 

Sie konnte auch erkennen, ob in einer Anleitung Fehler gemacht wurden ("das geht an der Stelle nicht auf, wenn man das so macht") und sie war in der Lage, die Fehler in der Anleitung zu korrigieren, ihren eigenen Code zu verfassen, oder eine Anleitung so abzuwandeln, dass aus einem Männerpullover ein Puppenkleid wurde und die Anmutung z.B. eines norwegischen Folklore-Entwurfs trotzdem gewahrt blieb.

Eine Ähnliche Vorstellung hatte sie auch von der dreidimensionalen Gestaltung von Stoff auf Basis eines Burda-Schnittmusters oder wenn es sein musste einer vagen Schemazeichnung. Kam sie dazu, während ich etwas bastelte oder handarbeitete, war eine häufige Reaktion, dass sie etwas sagte wie: "Schau mal, da gibt es einen Kniff, wenn du den Besatz vor dem Annähen schmal umbügelst und am Ende etwas einhältst, dann beutelt es sich hinterher nicht, sondern wird schön glatt" oder ein vergleichbarer Ratschlag, aus dem sich ergab, dass sie nicht nur aus meinen rudimentären Bastelkomponenten bereits herausgelesen hatte, was das Ganze sein sollte, sondern sie hatte die Sache auch technisch durchdrungen und wusste, welche Verbindungen heikel waren, wo es an Stabilität fehlen würde und, vor allem, wie sich zahleiche offensichtliche Probleme des Projektes durch ebenso offensichtliche "Kniffe" von vornherein vermeiden ließen.

Glücklicherweise hat meine Großmutter dieses Praxiswissen in angewandter Mathematik ihren Töchtern weitergegeben, so wie sie es vermutlich selbst von ihrer Mutter oder eher in der Schule einmal gelernt hatte. Auch in der Enkelgeneration ist es mindestens partiell noch angekommen - auch wenn ich den Eindruck habe, dass diese Art von Wissen, die für viele Frauen einmal recht selbstverständlich war, heute exotisch geworden ist und man es keinesfalls voraussetzen sollte. Natürlich gibt es die Bastelmamas, die Stricknerds und die Nachhaltigkeitshipster. Aber eine gewisse Selbstverständlichkeit im Umgang mit Werkzeugen wie Häkelnadeln, Schneiderkreide oder Knopflochfüßchen scheint mir nicht mehr so allgemein verbreitet. Damit ist auch eine Menge technisch-physikalisches und mathematisches Alltagswissen verloren gegangen.

Die Physikerin Elisabetta Matsumoto erforscht das Stricken anhand der Knotentheorie. Ein lesenswerter Spektrum-Artikel über die Mathematik des Strickens schildert ihre Forschungsergebnisse.

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