Sonntag, 14. November 2021

Was machst du eigentlich den ganzen Tag? - 5. November 2021

Kurz nach drei wache ich auf und bin sehr wach. Ich lese ein bisschen. Die Kirchturmuhr schlägt die Viertelstunden. Ich höre einige Schnellzüge in der Nähe vorbeirauschen. Ich rechne mir selbst vor, dass ich viele Schläge der Turmuhr bereits gut verschlafen haben muss. Irgendwann schlafe ich wieder ein und werde dann von der rostigen Hupe kurz vor sieben geweckt. 

Ich "koche" Kaffee in den Zahnputzgläsern. Wir rollen noch ein wenig im Bett herum, dann gehe ich ins Bad, genieße das heiße Wasser und wasche ausgiebig meine Haare. Während der Liebste ins Bad geht, ziehe ich mich an und teste den Balkon. Unter uns ist ein großer Wintergarten. Der Himmel ist noch neblig verhangen, verspricht aber, vielleicht noch sonnig zu werden. Wir testen uns, beide negativ. Als der Liebste fertig angezogen ist, packe ich meine Basteltüte und das New York Magazin und wir gehen pünktlich um 8:30 ins Erdgeschoss. Der Wintergarten ist der Frühstücksraum. 

Für jedes Zimmer ist ein Tisch eingedeckt, mit coronagerechten Abständen. Auf jedem Platz steht ein Frühstücksgedeck aus Teller, Becher, Messer, Serviette und zwei Brötchen. Getränke bringt das Personal, alles andere gibt es am Büffet, wobei Wurst, Käse, Tomaten und Gurken auf kleinen Tellern portioniert und mit Klarsichtfolie abgedeckt in einem gläsernen Kühlschrank stehen. Daneben gibt es Müsli, verschiedene Cerealien, Dörrfrüchte, Nüsse, selbstgemachte Zwetschgenmarmelade, alles ebenfalls portioniert und unter Folie. In einem weiteren Kühlschrank stehen Milch in kleinen Kännchen, Joghurt, Karamellpudding und Melonenstücke. Außerdem gibt es Honig, Nutella, andere abgepackte Marmeladen, diverses Obst und Eier. Ich entscheide mich für Butter, Schinken und Brie, Tomaten- und Gurkenscheiben, außerdem Zwetschgenmarmelade und ein Ei, Melone und Orange. Wir lassen es uns gut gehen. Als meine Eltern eintreffen, lotsen wir sie brav an einen der anderen Tische um die coronagerechte Anordnung nicht zu zerstören.  

Kurz drauf erscheint der Rest der Verwandtschaft und stellt fröhlich die Tische zusammen. Nach dem Frühstück begleite ich meine Eltern erst zum Auto und dann in ihr Zimmer im Neubau. Leider hat sich die als Verpackung geplante Schachtel auf der Fahrt aufgelöst und lässt sich mit Tesafilm nicht reparieren. Mein Vater fragt an der Rezeption nach UHU. Gibt es leider nicht. Wir ändern den Plan und verwenden statt der Schachtel die Papiertüte, in der die Schachtel verpackt war. Mithilfe von Seidenpapier simulieren wir einen Wald, in dem sich die Schleichtiere, das Bilderbuch und unsere Karte  verstecken können. Wie verabreden, um 11 Uhr abzufahren, und ich gehe zurück in unser Zimmer, um mich umzuziehen. 

Versehentlich habe ich die falschen Strumpfhosen eingepackt. Statt der besten drei meiner schwarzen Strumpfhosen habe ich die beiden zweitbesten und eine uralte voller Löcher, die ich im Garten unter der Gartenhose trage, eingepackt. Ich entscheide mich für das bequemere der beiden zweitbesten Modelle und steige in Kleid und Strickjacke. Der Liebste berät mich noch zu meinem Seidenschal. Den anderen Schal und die Abendschuhe packe ich in eine schwarze Stofftasche, außerdem den Vorratspack gemusterte OP-Masken. Ich richte die kleine Handtasche mit Notfallequipment und kleinen Scheinen und Münzen. Dann steige ich in meine schwarzen Stiefel und den roten Mantel. Der Liebste ist auch schon fertig. 

Vor dem Haus treffen wir die anderen wieder. Ich verteile noch ein paar gemusterte Masken, packe meine Stofftasche in den Kofferraum und wir fahren los. Nach kleiner Navigationsverwirrung finden wir die Kirche schnell und auch das Parkhaus in der Nähe. Schon vom Auto aus sehen wir weitere bekannte Gesichter und andere Gäste. Als kleine Familienprozession ziehen wir weiter zur Kirche. Vor der Kirche ist es dann überraschend voll. Wir lassen uns nach Impfstatus und Testergebnis befragen und bekommen jeder ein Festivalbändchen um den Arm, das gleichzeitig als Tagesablaufplan funktioniert.

Festivalbändchen mit Hochzeitsplan.

Die Kirche ist angenehm mittelklein und schon bald überraschend voll. Es ist ein bisschen seltsam, so viele Gesichter seit Jahren wiederzusehen, die sich nun alle hinter Masken verstecken. Gleichzeitig aber irgendwie auch speziell und schön. Hinter dem Altar hängt eine Art Mobile aus filigranen ineinander verwobenen Formen in zarten Tönen, teilweise abstrakt, dazwischen ein paar Fische und Brote erkennbar. Die Pfarrerin, Brautpaar und Brautzeugen ziehen ein und es geht los. Trotz Masken singen wir, und da die Lieder lauter gute Bekannte sind, klingt das sogar ziemlich kräftig. Zwischendurch singen auch zwei Sängerinnen mit Pianobegleitung, unter anderem im bairischen Dialekt - "I lean di o", das ist anrührend und passt ziemlich gut an diesen Ort.

Die Pfarrerin schlägt einen schönen Bogen zwischen Tradition und Persönlichem, zeichnet nach, was zwischen dem ersten abgesagten Hochzeitstermin, dem zweiten abgesagten Hochzeitstermin und heute so alles passiert ist und warum es sehr gut ist, dass wir jetzt alle da sind und alles stattfindet, wie es stattfindet und wirkt insgesamt auf angenehme Weise überzeugt von dem, was sie da macht. Mir kommen immer wieder die Tränen und auch das Brautpaar wirkt sehr bewegt. Nach der Trauung zieht das Paar wieder aus und ist als wir hinaustreten auch schon unterwegs zur Feierlocation. Wir stehen noch einige Minuten herum und begrüßen weitere lange nicht gesehene Verwandte und neu zur Familie Dazugestoßene. Dann gehen wir zurück zum Parkhaus und fahren los.

Wir fahren überraschend lange auf kleinen Sträßchen über Hügel und durch winzige Orte und kommen schließlich bei einer Art Aussiedlerhof ein, der (Ex?-)Bauernhof, (Ex?-)Landmetzgerei und professionelle Hochzeitslocation ist. Wir parken unterhalb des Anwesens auf einem gekiesten Hof und werden auf einer umlaufenden Terrasse schon vom Brautpaar erwartet: endlich können wir gratulieren! Hinter dem Brautpaar spielt eine Jazzband. Heizpilze kämpfen gegen die novemberlichen Temperaturen. Ich nehme gerne ein Glas Sekt und ein Stück Flammkuchen entgegen. Hinter meiner Mutter sinkt eine junge Dame ohnmächtig nieder. Die anwesenden familieneigenen Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen eilen herbei, aber die ebenfalls familieneigenen Johanniter*innen sind noch schneller und haben sofort alles im Griff.

Als das Brautpaar vom Fotografiertwerden zurückkehrt, ziehen wir ums Haus herum in den großen Saal, ich biege vorher kurz zum Auto ab und wechsle meine Schuhe. Unser Tisch ist irgendwo in der Mitte und wir sitzen in einer schönen Runde mit öfter und seltener getroffenen Verwandten. Als Bhaltis steht an jedem Platz in Fläschchen Himbeersirup nach Großis Rezept. Das Paar begrüßt die Gäste und schneidet die Hochzeitstorte an, danach ist das Kuchenbüffet eröffnet. Der Kaffee kommt jetzt genau richtig. Während wir Kaffee trinken, werden noch ein Gemeinschaftsfingerabdruckbild und ein Fotoprojekt erklärt.

Inzwischen hat sich die Jazzband in einer Ecke des Raumes als Rock-Pop-Schlagerband neu erfunden, wobei der Schlageranteil im Verlauf des Abends langsam ausläuft. Das Brautpaar tanzt einen schönen Wienerwalzer. Wir walzen auch ein bisschen hinter dem Saal durch den schmaleren Raum mit dem Kuchenbüffet - die Tanzfläche ist einfach zu voll! Ich hoffe auf einen langsamen Walzer irgendwann später. Einige Tänzchen später beginnt das wirklich hervorragende Festessen mit einem Salatteller für jeden, der sich mit Antipasti von üppig gefüllten Etageren nach Belieben ergänzen lässt. Das nennt sich Tischbüffet und werde ich mir bestimmt abschauen!

Es folgt eine Hochzeitssuppe, die uns spontan an Niedersachsen erinnert und ein Hauptgang, bei dem ich mich für die Fleischvariante entschieden habe, rosa Kalbsrücken, dazu Teigtaschen mit Pilzfüllung und herbstliches Gemüse. Alles schmeckt köstlich, ist modern angerichtet und auf den Punkt gegart.

Unser Beitrag zu dem Video, den wir nach der ersten Terminverschiebung eingereicht hatten, hat es nicht in den endgültigen Film geschafft, dafür haben meine Eltern einen entzückenden Auftritt. Die Band legt sich weiter ins Zeug und wird mit voller Tanzfläche belohnt. Kein langsamer Walzer dabei, allerdings. A. hält noch einen kleinen familienhistorischen Vortrag und ich denke ein bisschen an Großi und wie sie das alles gefunden hätte. Ich freue mich in Gedanken, dass sie bei unserer Hochzeit noch dabei sein konnte.

Wir freuen uns an der spielwütigen und ansteckend fröhlichen Band und dass wir endlich mal wieder zum Tanzen kommen, auch wenn mir manche Grundschritte (Quickstep, ausgerechnet!) einfach nicht mehr einfallen und ich den Liebsten nur ahnungslos anschauen kann, als der "Aida!" ruft. Es ist einfach herrlich. Dazwischen komme ich auch dazu, mich mit meinen Cousinen und Cousins zu unterhalten, das ist auch richtig schön, auch wenn ich mal wieder merke, dass mein Leben doch so anders ist, dass wir nach Gemeinsamkeiten eher suchen müssen. Daneben beobachte ich mit Interesse, wie wir alle so altern, wer welche Lösungen mit schwindender Haarfarbe usw. gefunden hat. Das geht so auch nur mit Menschen, die mir grundsätzlich vertraut sind, die ich aber nicht so oft sehe. Ich versuche, den beiden wirklich sympathischen und angenehmen Neuzugängen in der Familie keine blöden Fragen zu stellen. Das ist auch gar nicht so einfach, ich will ja auch nicht desinteressiert wirken. Ich hoffe, wir haben die beiden nicht abgeschreckt mit unserer Familienhaftigkeit.

Der Liebste verrät der Band, dass ein langsamer Walzer doch mal eine gute Idee wäre. Sie spielen "If you don't know me by now" und wir schwelgen. Sogar meine Eltern lassen sich auf die Tanzfläche locken. Danach noch eine Rumba. So schön. Dann gibt es überraschenderweise schon wieder etwas zu essen: ein Vesperbüffet mit Brezeln, Schinken und Käse. Auch wieder sehr fein. Irgendwann nach 23 Uhr werden Shuttlefahrten ins Hotel angeboten. Meine Eltern nehmen gerne an, wir möchten lieber noch ein bisschen weitertanzen und erleben deshalb auch noch den letzten Tanz des Brautpaars, das die Tanzfläche nicht nur eröffnet sondern auch verabschiedet. So schön! Danach warten wir eine Weile im Dunkeln auf einer Bank vor dem Saal auf die Rückkehr des Shuttlebus. Drinnen werden die Stühle hochgestellt und das Personal räumt die Deko ab - neuer Tag, neues Paar. Der Kleinbus bringt uns gegen halb eins zurück in den Landgasthof. Meine Füße sind froh, dass ich mich hinlegen kann. Wir sehen noch ein paar Minuten fern und schlafen ein.

Auf zeit.de jetzt (14.11.) 5,02 Mio. Infizierte, davon 248.000 in den letzten sieben Tagen, 58,2 Mio. Geimpfte.

Die anderen Beiträge des Tagebuchbloggertreffens finden sich im Blog von Frau Brüllen.

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