Donnerstag, 26. Oktober 2023

Bildung

Ich bin zwischen die Fronten der Lerntheorien geraten. Einerseits vermittle ich meinen Studierenden gerade brav, wie Lernen "funktioniert" und arbeite die vorgesehenen neurowissenschaftlichen (3-Speichermodell des Gehirns, Proteinbiosynthese, Synapsen) und lernpsychologischen Theorien (Behaviourismus, operante Konditionierung, Konstruktivismus) ab. Andererseits

habe ich mich selbst als Akadmiestudentin in die Studierendenrolle begeben und hörte gestern überrasch einen vehementen Rant aus erziehungswissenschaftlicher Sicht gegen die ganzen Hirnforscher und ihre Fixierung auf das subjektlos entleibte Gehirn. "Man kann Lernen nicht lernen, so wie man auch Kochen nicht kochen kann" rantete der Dozent. Lernen als Kampfbegriff. "Alle reden nur noch von Lernen" und meinen damit einen neurobiologischen Vorgang. Der soziale Aspekt, die Frage nach dem Sinn von Bildung, das Normativitätsproblem, an denen sich die Bildungswissenschaft seit Jahren abarbeitet, wird von den Hirnforschern nicht nur schnöde ignoriert, sondern es ist ihnen auch noch gelungen, mit unterhaltsamen Darstellungen ein breites Publikum für sich einzunehmen, das die Bildungswissenschaft wohl einerseits auch gerne selbst bespielen würde, zugleich aber - für mich überraschend - elfenbeinturmig von oben herab betrachtet. Das ist deshalb so überraschend, weil ich zugleich seit Jahren nicht mehr so kurz hintereinander in verschiedenen Vorträgen Begriffe wie Arbeiterkind, Arbeiterjargon, Arbeitersoziolekt und Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse gehört habe. 

Erster Eindruck nach vier Wochen "Studium" der Bildungswissenschaft: die Bildungswissenschaftler haben einen ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex. Wir sind eine echte Wissenschaft! Mit Methoden, Theorien und allem was dazugehört, schreit es mir entgegen! Und: die Hirnforscher sind ungebildete, geschichtslose Gesellen, die das Volk mit eingefärbten Hirnscans verführen wollen zu glauben, mit dem Lernen wäre das alles irgendwie viel einfacher, als es die Fachwissenschaften über Jahrhunderte so behauptet haben. Und: denkt bloß nicht, ihr könntet künftig auf Pädagogen verzichten mit euren Synapsen, Lernapps und der ganzen KI!

2 Kommentare:

Herr Rau hat gesagt…

Sehr spannend, vielen Dank! Das mit dem Minderwertigkeitskomplex der Bildungswissenschaft kann ich mir gut vorstellen, ich kenne eher das Verhältnis Fachdidaktik-Fachwissenschaft, aber da gibt es auch Spuren davon. Ich halte das für nachvollziehbar, das mit dem Komplex. Dennoch bin ich eher Team Bildungswissenschaft als Team Hirnforschung. Es gibt aber auch den suppigen Grenzbereich dazwischen, da wo die Spiegelneuronen hausen, also die Populärversion davon, oder ist das nur Hirnforschung?

poupou hat gesagt…

Ich war vermutlich bisher eher Team Hirnforschung und hatte eigentlich erwartet, dass die Bildungswissenschaftler auch Mitspieler in diesem Team wären. So im Sinne von: aus einer pädagogischen Perspektive heraus werden einerseits die zu vermittelnden Inhalte in einer vermittlungsfähige Anordnung gebracht und andererseits die sozialen Situationen kreiert, in denen dann das Lernen stattfindet, wobei letzteres sich dann hirnphysiologisch in Synapsen niederschlägt. Um in der Kochen-Metapher zu bleiben: wenn ich die Maillard-Reaktion verstanden habe, weiß ich was beim Zwiebeln karamelisieren passiert. Das schien mir nützlich. Jetzt wird mir aber deutlich: hier will keiner die Hilfwissenschaft des anderen sein und die Hirnforscher sind halt gerade die coolen kids und die Bildungswissenschaftler sind die Stoffel.